Malte Oppermann

und

Alexander von Schönburg

im Gespräch über

Das Wesentliche bezüglich des Jetzt

Institut St. Philipp Neri, Berlin, 21. Juni 2024
ZUM BUCH

„Die Einmaligkeit des Augenblicks führt notwendig zum Problem der Zeit“.

Alexander von Schönburg: Ich habe heute auf der Suche nach neuesten Nachrichten zum Thema des angeblich bevorstehenden endgültigen Verbots der traditionellen Messe die einschlägigen Online-Medien durchsucht, und da bin ich bei OnePeterFive auf einen Artikel gestoßen mit der Überschrift: „Ist Nachrichten lesen eine Sünde?Der Artikel ließ da überhaupt keinen Zweifel und fuhr großes Geschütz auf, von Thomas von Aquin bis Chesterton, der mit dem Satz zitiert wurde: “All that anybody ever ment as the evil of gossip is much more characteristic of established journalism.“ Jetzt habe ich den Eindruck, wenn ich deine Bücher lese, dass du davon vollkommen unbeleckt bist. Ich habe alle deine drei Bücher mit großem Gewinn gelesen, auch natürlich deine Essays, die unter anderem in der Tagespost abgedruckt wurden, und immer hatte ich das Gefühl, einen Autor vor mir zu haben, der mit ausgesprochener Gelassenheit und ausgesprochener Distanz zum täglichen Weltgeschehen schreibt. Ist das ein Eindruck, der täuscht?

Malte Oppermann: Ich hoffe, dass er nicht täuscht, das ist ja ein großes Kompliment.

Du lebst in Italien. Wie darf man sich das vorstellen? Bist du dort der Dichter, der unter dem Olivenbaum sitzt?

Unterm Olivenbaum arbeite ich eher. Ich will die Mühen nicht übertreiben, aber es ist schon viel Aufwand mal zweihundert, bloß zwanzig Liter Olivenöl ernten zu können. Das ist bei uns ja auch nicht wirklich professionell.

Also seid ihr nicht betroffen von dieser fürchterlichen Olivenkrankheit?

Wir sind wahrscheinlich von allem möglichen betroffen, aber da wir ja nicht die Nachrichten lesen, wissen wir das gar nicht [lacht].

Du hast einen Radioessay geschrieben für den SWR: „Idyllen und Katastrophen“. Über das Leben in der Natur, im Garten und über die Angst, die man eigentlich haben müsste oder haben zu müssen glaubt, wenn man die Nachrichten schaut. Dieser Angst kann wahrscheinlich nur ein gewisses Gottvertrauen abhelfen. Ist Vertrauen auch wichtig fürs Philosophieren? Oder beginnt das Philosophieren mit dem Misstrauen und dem Zweifel?

Ohne einen Grundrest von Vertrauen in die eigene Vernunft ist überhaupt kein Denken möglich, auch kein vernunftkritisches. Robert Spaemann hat mal gesagt, dass Dialektik das Wahre nicht hervorbringt, sondern immer nur den Irrtum des Selbstwiderspruchs zeigen kann, und zwar nur, weil wir das Wahre im Grunde genommen schon wissen. Abstrakt formuliert, folgt aus Non A in alle Ewigkeit gar nichts, schon gar nicht A, wenn das Ganze, von dem A und Non A abstrahiert sind, nicht schon als offenbares Geheimnis vor mir läge. Es gibt einen Begriff, der unser Verhältnis zu diesem offenbaren Geheimnis auf den Punkt bringt, und dieser Begriff lautet Anschaulichkeit.

Auch über die Anschaulichkeit hast Du einen Radioessay geschrieben, „Don Giovanni oder die Anschaulichkeit“.

Ja. Die Anschaulichkeit ist ein elementares Thema für mich. Wenn die Welt anschaulich ist, wenn ich die Schöpfung sozusagen direkt wahrnehmen kann und nicht bloß vermittelt durch Zeichen oder getäuscht von einer Oberflächenillusion, nur dann kann ich aufgrund des durch Anschauung gewonnenen eigenen Wissens auch anfangen über die Welt nachzudenken. Nachdenken bedeutet, das, was ich da angesehen habe, mit den Mitteln der Sprache immer genauer abzubilden, und zwar wirklich abzubilden, so wie ein Maler in ein Stück Natur oder einen Menschen abbildet. Alle philosophischen Begriffe sind am Ende Metaphern. Das Wort Substanz zum Beispiel: Substanz bedeutet das Zugrundeliegende. Und anschauliche Metaphern bilden die Welt nur dann ab, wenn die Welt selbst anschaulich ist. Nur dann kann ich darauf vertrauen, dass mein Denken tatsächlich die Wirklichkeit wiedergeben kann und nicht bloß ein sich Verheddern in von anderen schon Gedachtem ist. Nur wenn die Welt unmittelbar anschaulich ist, kann man auf direkte, sozusagen naive Art, philosophieren. Das ist mir sehr wichtig, weil ich glaube, dass das direkte, naive Fragen ein Element unserer Freiheit ist. Spaemann hat auch mal gesagt, die Philosophie sei institutionalisierte Naivität. Dieses ganz direkt und naiv sich selbst eine letzte Frage stellen, das macht Philosophie aus.

Was wäre zum Beispiel eine letzte Frage?

Eine letzte Frage ist eine, die ich nicht mehr zerlegen kann in andere Fragen. Wenn ich frage, „was ist Zeit“, dann würde vielleicht einer Kommen und sagen, „Na, die Frage ist falsch gestellt, du musst erst mal fragen, welche geschichtlich gewachsenen Machtstrukturen dich dazu bringen, zu glauben, dass es so etwas wie Zeit gibt und ein fragendes Subjekt, das sich vernünftigerweise fragen kann was Zeit ist“. Anhand dieses etwas polemischen Beispiels sieht man schon, dass es eine Mode gibt, letzten Fragen auszuweichen. Eine Mode, die Papst Benedikt Relativismus genannt hätte. Es ist Mode, nicht daran zu glauben, dass es letzte Fragen gibt, nicht daran zu glaube, dass man ganz allein, nur mit den eigenen Sinnen und dem eigenen Denken der Wahrheit näher kommen kann, weil man eben nicht dran glaubt, dass die Wirklichkeit anschaulich ist. Foucault sagt das ganz direkt. Er sagt, wir sollen uns nicht einbilden, dass die Welt uns ein lesbares Antlitz zuwendet.

Ist die Flucht in den Garten und in die Anschaulichkeit, dieses sich die Hände dreckig Machen, auch eine Flucht vor der Moderne?

Nein, ich glaube, es ist umgekehrt. Die Moderne ist eine Flucht vor dem Anschaulich-Sterblichen. Man muss sich doch nur ein bisschen umsehen, um zu wissen, dass der Alltag der meisten Menschen überaus anschaulich ist. Kein Gärtner, Maurer oder Gerichtsmediziner kann so tun, als würden ihm die Dinge und Wesen kein „lesbares Antlitz zuwenden“.

„Ich sehe nicht nur Zyklen und Schablonen, nicht nur Formen, sondern ich sehe Individuen. Und wenn ich aufmerksam genug bin, kann ich feststellen, dass es auch eine Individualität jedes Augenblicks gibt.“

Wie hängt die Anschaulichkeit mit deinem Thema des Augenblicks zusammen?

Ich denke, dass die Welt nur im Augenblick anschaulich ist. Und das bedeutet, anschaulich in ihrer konkreten Einmaligkeit. Anschaulich ist die Wirklichkeit ja nicht nur in ihrer abstrakten Ordnung, wenn ich etwa sehe, dass die Mondphasen wechseln, oder sich Tierwelt und Vegetation mit den Jahreszeiten verändern. Es gibt viele abstrakte Zusammenhänge, die ich wissen kann auf anschauliche Weise. Aber ich kann auf anschauliche Weise auch etwas vom Individuellen wissen, von dem, was nicht wiederkehrt und von dem, was nicht allgemein ist. Ich sehe nicht nur Zyklen und Schablonen, nicht nur Formen, sondern ich sehe Individuen. Und wenn ich aufmerksam genug bin, kann ich feststellen, dass es auch eine Individualität jedes Augenblicks gibt.

Deine Trilogie beginnt mit dem Büchlein Der Augenblick, dann kommt Das Unvorhergesehene und jetzt ist Das Wesentliche bezüglich des Jetzt erschienen. Über die Beschäftigung mit dem Augenblick bist du natürlich zum Problem der Zeit gekommen.

Die Einmaligkeit des Augenblicks führt notwendig zum Problem der Zeit. Wir wissen alle, dass der Augenblick irgendwie nicht dauert, dass er immer schon entflohen ist. Man stellt fest, da ist etwas, was immer schon weg ist. Diese Erfahrung ist ja auch in der Dichtung überall präsent. Es ist die Erfahrung der Flüchtigkeit; der radikalen Vergänglichkeit.

Nun ist aber die Rede nicht mehr vom Augenblick, sondern vom Jetzt.

Der Grund, warum dieses Buch das Wesentliche bezüglich des Jetzt heißt, ist Einstein, und zwar ist es Einsteins Skrupel, weil Einstein sich mal darüber beklagt hat, dass in seiner Physik genau dieses Jetzt nicht vorkommt, das immer schon fort ist. Die Flüchtigkeit der Gegenwart, die Erfahrung der radikalen Vergänglichkeit, die gibt es bei Einstein nicht, und das liegt daran, dass er Zeit als Ausdehnungsdimension begreift. Dadurch fällt der Unterschied zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft weg. Man nennt das Eternalismus, Vierdimensionalismus oder Blockuniversum. Es ist die Vorstellung, dass die Wirklichkeit in der Zeit blockartig ausgedehnt da ist. Einer der prominentesten Kritiker dieser Auffassung, Avshalom Elitzur, beschreibt das so: „We are all frozen pictures in time.“ Der Alexander, der zum ersten Mal die Augen aufschlägt, ist genauso da, wie der Alexander, der mich jetzt anschaut, und der Alexander, der zum letzten Mal irgendwas anschaut. Das Universum ist in allen seinen Augenblickszuständen vom Urknall bis in alle Zeit sozusagen aufeinander gestapelt anwesend. Dieser Eternalismus widerspricht natürlich der Erfahrung. Einstein selbst hat deswegen gesagt, dass es etwas Wesentliches bezüglich des Jetzt gäbe, was schlicht außerhalb des Bereichs der Wissenschaft liegt.

Existiert denn im wissenschaftlichen Sinne der Augenblick oder ist er eines dieser Dinge, die vom Verstand nicht ganz gefasst werden können, sondern nur intuitiv?

Wenn Einstein sagt, der Augenblick liegt außerhalb des Bereichs der Wissenschaft, dann meint er, außerhalb des Bereichs der zählenden Wissenschaft. Das stimmt auch. Doch das heißt nicht, dass es das Jetzt nicht gibt. Das ist so ähnlich wie mit den Qualitäten. Der Geschmack von Zitrone liegt auch außerhalb des Bereichs der Wissenschaft, weil man den Zitronengeschmack nur schmecken kann, aber nicht messen.

Alles, was wirklich von Bedeutung ist, Schönheit, Liebe, Kreativität, Freude, innerer Friede, das sind alles Dinge, die jenseits der Wissenschaft liegen.

Zumindest sind sie nicht berechenbar.

Aber was würde ein Thomist zum Beispiel sagen? Müsste ein Thomist jetzt nicht ausrufen: nein, alles ist aus dem Verstand herleitbar?

Aus dem Verstand herleitbar kann es ja ruhig sein. Es liegt lediglich außerhalb des Bereichs der modernen, zählenden Wissenschaft. Messen heißt zählen. Galileo hat seine Pulsschläge gezählt, während er eine Murmel die Bahn hinunterrollen ließ und und so festgestellt, dass die Fallgeschwindigkeit zunächst im Quadrat zunimmt mit der Zeit. Er hat nur gezählt. Und zählen kann man nicht auf einmal. Der Augenblick ist aber auf einmal da. Im Augenblick ist gar keine Zeit zum Zählen und deswegen gibt es auch keine Augenblickszähler. Weder Augenblickszähler, die mit dem Maß der Zeit den Augenblick zählen, also sagen, wie lange er dauert, noch Augenblickszähler, die mit dem Maß des Augenblicks die Zeit zählen und sagen, wie viele Augenblicke es zum Beispiel nun waren zwischen unserer Ankunft im Institut St. Philipp Neri und jetzt.

Das könnte ja ein interessantes Einfallstor sein. Wenn der Augenblick zu den Dingen gehört, die wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden können oder vom Verstand nicht gänzlich erfasst werden können, aber trotzdem real sind, dann ist der Augenblick vielleicht auch ein Weg zu Gott, wenn du so willst.

Der Augenblick der Gegenwart ist eben kein Ding in der Welt, und dennoch ist die ganze Welt immer nur in ihm da. Diesen Satz kann man sofort umstellen und den Schöpfergott anstelle des Augenblicks einsetzen, der auch kein Ding in der Welt ist, aber durch den sie ist.

„Ich glaube, es ist nur sinnvoll von Schöpfung zu sprechen, wenn die Schöpfung in jedem Augenblick ewig neu passiert“.

Also hat der Augenblick etwas mit Schöpfung zu tun.

Ich glaube, es ist nur sinnvoll von Schöpfung zu sprechen, wenn die Schöpfung in jedem Augenblick ewig neu passiert. Wenn man sich auf diesen Gedanken einlässt, dann kommt man auf einige Dinge. Dann kommt man zum Beispiel darauf, dass der Schöpfungsakt unendlichfach geschehen muss, oder darauf, dass es eine Einheit von Anfang und Vollendung geben muss. Dinge, die Leibniz sehr klar gesehen hat.

Das beschreibst du ja in deinem neuen Büchlein. Was mir bei der Lektüre deiner Bücher geschieht, ist etwas, was mir sonst nur bei sehr wenigen Autoren geschieht, die tief in der Mystik verankert sind. Es ist nicht so, dass ich zu großen neuen Erkenntnissen gelange. Eher gelange ich in einen anderen Bewusstseinszustand. Wie in der Meditation. Gleichzeitig in einer klaren Sprache geschrieben und spielerisch zum Teil. Ich musste überlegen, an wen mich das am meisten erinnert und kam zum einen auf Johann Georg Hamann und zum anderen auf Florenski, den Martin Mosebach mir einmal sehr ans Herz gelegt hat. Gibt es diesen Einfluss auf dich oder gehe ich da vollkommen fehl?

Nein. Florenski ist unbedingt ein Denker der Anschaulichkeit. Ein Auswahlband aus seinem Werk heißt „Konkrete Metaphysik“. Den Titel finde ich sehr passend. Die Vorstellung, dass die Metaphysik es mit abstrakten Dingen zu tun hat, ist ja ganz falsch. Es ist im Gegenteil so, dass der Metaphysiker dem Konkreten nur eben besonders nahe kommen will. Aristoteles betrachtet die Wirklichkeit und guckt genau hin. Ihm wird anschaulich, dass die Bewegung eines Tiers ganz anders ist als die Bewegung eines geworfenen Balls und deswegen trifft er eine begriffliche Unterscheidung an dieser Stelle, die nur jemandem metaphysisch-theoretisch erscheint, der eben selbst nicht so genau hinguckt, oder dem die bloße Berechenbarkeit der Bewegungsbahnen von rein geometrisch definierten Körpern genügt. Florenski ist auch so ein Autor, der von der eigenen Anschauung ausgeht, und nicht von seinem kulturgeschichtlichen Wissen. Man muss gar nicht viel wissen. Das Wissen, worauf es beim Philosophieren wirklich ankommt, das hat jeder. Zu diesem Wissen gehört auch die Erfahrung des fliehenden Jetzt.

Deswegen lerne ich bei der Lektüre auch nichts Neues. Du beschreibst Dinge, die in dem Moment, wo du schreibst, vollkommen evident sind, und die trotzdem verschütt liegen.

Davila sagt, dass Erkenntnis bedeutet, dass sich Gemeinplätze in Entdeckungen meines Geistes verwandeln. Plötzlich werden sie meine Entdeckung und mein Eigentum. Sie erscheinen neu, obwohl sie alt sind. Spaemann hat auch mal gesagt, er hoffe, dass in seinen Büchern nichts Neues steht.

Was ist die neue alte Erkenntnis in Das Wesentliche bezüglich des Jetzt?

Dass die Wirklichkeit, wenn sie nicht, wie Einstein glaubte, in der Zeit ausgedehnt ist, Vergangenheit und Zukunft also nicht da sind, von Augenblick zu Augenblick neu vollendet sein muss. Und dass der Augenblick der Gegenwart tatsächlich nicht in der Zeit ist. Die Zeit ist im Ganzen etwas Abwesendes. Das hat übrigens auch Ernst Jünger mal gesagt. Dass der Augenblick der Gegenwart kein Teil der Zeit ist, das steht schon bei Aristoteles. Das Teilstück misst das Ganze aus, aber bei der Zeit ist weder im Teilstück noch im Ganzen etwas da.

„Jeff Tollaksen, ein Physiker, spricht davon, es gäbe ,every instant of time a new universe’“.

Kannst Du das noch näher beschreiben?

Die Gegenwart ist von Augenblick zu Augenblick ewig neu. Sozusagen fulgurativ. Wie Heraklit sagt: das Steuer des Alls führt der Blitz. Der Blitz ist eine bessere Metapher für die Schöpfung als der Lehm, aus dem Gott etwas formt. Aus vorher gegebenen Bestandteilen etwas Zusammensetzen, das ist Technik, das ist das, was wir machen. Es gibt übrigens auch in der Naturwissenschaft Leute, die das so ähnlich sehen. Zum Beispiel Jeff Tollaksen, ein Physiker, der davon spricht, es gäbe „every instant of time a new universe.“

Widerspricht dieser Gedanke der ewigen Neuheit der Welt nicht unserer Erfahrung von der langsamen Entwicklung, von Alter, Krankheit und Tod?

Um diese Frage geht es im zweiten Teil des Büchleins. Irgendetwas muss es geben, was die ewig frische und neuvollendete Welt unvollendet und erlösungsbedürftig macht. Die Geschöpfe haben einen technischen Umgang miteinander. Sie sind darauf angewiesen, einander für ihre Zwecke einzusetzen, und dafür brauchen sie Zeit. Das Leben wird zur Zeitgestalt, die sich im immer Neuen der Gegenwart abbildet.

Ich möchte eine Passage aus einem deiner Essays vorlesen, weil ich da noch ein bisschen nachbohren möchte. Eine Passage, wo du dich an den Grenzen des Beschreibbaren bewegst. Du beschreibst eine Fahrt, deine erste Fahrt, auf dem Vaporetto vom Bahnhof Santa Lucia hinauf über den Canale Grande und du schreibst Folgendes:

Auf den Wellen tanzten die Lichtreflexe von den Fenstern der Paläste; alle Säle schienen erleuchtet. Es war November. Ab und zu kam ein anderes Vaporetto uns entgegen, an den Stationen stiegen nur wenige Leute ein. Der Rausch, der mich während dieser Fahrt erfasste, war so stark wie nichts anderes, was ich zuvor erlebt hatte. Es war mir, als könnte ich mit meinen Sinnen die ganze Stadt Venedig mit all ihrer Geschichte spüren. So als würde man am Gipfel die Hand auf den nackten Felsen legen und den ganzen Berg in seiner Hand fühlen.

Ich fand das eine sehr starke Passage. Und ich frage mich, welchen Geheimnissen du hier auf der Spur bist. Die ganze Geschichte Venedigs ist ja eigentlich nichts, was in einen Augenblick hineingeht.

Was ich beschreibe, ist eine Aufladung des Gegenwartserlebens mit Repräsentationen. Man könnte das für einen Sonderfall halten. Aber nicht nur die Geschichte Venedigs, sondern alle zeitlichen Dinge, die im Augenblick keinen Platz haben, existieren nur, indem sie sich im Augenblick der Gegenwart spiegeln, oder in ihm repräsentiert werden.

Also ist Gegenwart Geistesgegenwart.

Jedenfalls ist die Gegenwart selbst etwas Ganzes und Vollendetes und kein bloßer Baustein von etwas anderem, das in der Zeit daliegt. Wenn Einstein unrecht hat und es Wirklichkeit nur im Augenblick der Gegenwart gibt, dann gibt es auch nur im Augenblick der Gegenwart etwas Ganzes, und dann kann dieses, was im Augenblick der Gegenwart ganz ist, nicht mit der Zeit werden, denn diese Zeit gibt es nicht im Augenblick. Es muss etwas sein, dessen Anfang und Vollendung eins ist. Konrad Lorenz hat dafür mal den Begriff der Fulguration erfunden. Das blitzartige sich Vollenden von etwas ist kein Sonderfall ekstatisch-mystischer Lebensmomente. Dieses blitzartige Vollendetsein von Wirklichkeit ist die Bedingung der Möglichkeit von Leben und damit auch von jeder Reflexion, ähnlich dem, was Aristoteles energeia nannte.

Energeia heißt übersetzt vollendete Wirklichkeit.

Ja. Sinneswahrnehmungen oder Gedanken sind zum Beispiel vollendete Wirklichkeiten. Friedrich Georg Jünger hat mal geschrieben, Nachdenken folgt dem Gedanken. Jeder kennt das, dass er etwas verstanden hat, und nun nach den Worten sucht, es auszusprechen. Wie kann das sein? Wie kann das sein, dass ich etwas weiß oder verstehe, unmittelbar, ohne dass ich schon Zeit gehabt hätte, es ins sukzessive Element der Rede zu übertragen? Offenbar ist es so, dass wir ständig Geistesblitze haben. Nicht dass uns einfällt, was die Welt im Innersten zusammenhält, nein, aber es ist auch ein Geistesblitz zu sagen, „ah, ich hab den Schlüssel vergessen“. Es ist etwas Fulguratives, Instantanes da drin und dieses Instantane gibt es nicht nur beim Geistesblitz sondern auch bei Sinneswahrnehmungen. Es ist möglich, Nervensignale mit Sensoren zu messen, und so zu bestimmen, welche somatischen Profile von Reizübertragungen mit bestimmten Wahrnehmungen korrelieren. Aber das Ergebnis dieser messbaren sukzessiven Prozesse, nämlich die Sinneswahrnehmung, ist nicht selber wieder so ein Prozess, sondern etwas im Augenblick Ganzes. Ich suche mir meine Wahrnehmungen nicht aus zeitlich verstreuten Pixeln zusammen. Als zeitlich verstreute kann eine Wahrnehmung niemals da sein, auch nicht als Prozess, denn der Prozess läuft ja ab. Es gibt etwas immerzu augenblicklich Vollendetes am Lebendigsein, solange Körper und Geist gesund sind. Diese vielfältige immer schon Vollendetheit ist Voraussetzung für jene Prozesse, die sich erst nach und nach vollenden. Für alle Mühen des Lebens sozusagen. Wir brauchen Jahre, um erwachsen zu werden, um ein Buch zu schreiben oder ein Haus fertigzustellen. In der Zeitgestalt des Lebens zerfällt die Einheit von Anfang und Vollendung.

Es herrscht Mangel.

Zumindest ist eine Vermittlung nötig, um dort hin zu kommen, wo man hinkommen will. Eine Vermittlung, die nach orthodoxer Auffassung Gott in seiner Tätigkeit nicht nötig hat. Sein Tun ist reine Praxis, es ist in jedem Augenblick immer schon vollendet. Es ist das Gegenteil von technischem Handeln. Beim technischen Handeln nutze ich etwas für etwas anderes, und diese Vermittlung kostet Zeit.

Um auf den Anfang unseres Gesprächs zurückzukommen: Ich als Stadtmensch, nehme das ständig so wahr. Immer ist der Augenblick der Gegenwart nur ein Übergang, um irgendwo anders hinzukommen. Trotzdem muss es ja Momente geben, wo man ganz im Jetzt ist. Vielleicht in der Messe. Das erinnert mich an die fromme Köchin einer Tante von mir. Die saß immer so konzentiert in der Kirche und ich habe natürlich gedacht, sie betet fromm vor sich hin und ist vollkommen im Jetzt, doch irgendwann bin ich nah an sie herangerutscht auf der Kniebank und habe gehört, was sie da ständig vor sich hin flüsterte. Sie hat nur über das Mittagessen nachgedacht: „mache ich jetzt Reis, oder mach ich dies, oder sollte ich vielleicht das machen, oder ganz was anderes…“ usw. Bis dahin war sie ein großes Vorbild für mich gewesen. Jedenfalls scheint meditative Versunkenheit im Gebet, wenn es kein Küchengebet ist, doch ein gutes Beispiel für ein im Jetzt Sein, oder? Was denkst du dazu?

Zunächst einmal gibt es das Leben ganz im Jetzt nur in der Ohnmacht. Ohne die Zeit, ohne ständige Repräsentation des Gewesenen und Kommenden, können wir kein Bewusstsein unserer selbst haben. Deswegen denke ich, dass es wichtig ist, nicht zu glauben, dass ganz im Jetzt Sein sei eine freie Entscheidung.

Aber es gibt Möglichkeiten der Kontemplation. Auch manche Drogenerfahrungen scheinen dazuzugehören, die ein Gefühl der innige Gemeinschaft des Einzelnen mit der ganzen Schöpfung vermitteln. Ich habe neulich einen Film über die psychedelische Wirkung von wundersamen Pilzen gesehen. Da wurde in einer Studie diese Droge Palliativpatienten verabreicht, die danach von einer transzendentalen Erfahrung sprachen, die sich nicht in Worte fassen lässt, außer mit dem diffusen Satz, alles sei irgendwie miteinander verbunden und in gewisser Maße eins. Einer der Patienten berichtete nach der Behandlung, dass bei ihm nun jede Furcht vor dem Tod verschwunden sei. Bei dir habe ich den Satz gefunden: „Unser Verhältnis zum Augenblick bestimmt unser Verhältnis zum Tod. Der Mensch, dem nichts wirklicher ist als der Augenblick, stirbt gewissermaßen ständig.“ Das finde ich einen hochinteressanten Gedanken. Kannst du das noch mal ausführen?

Was ist wirklicher als der Augenblick? Es ist ein Irrtum, zu glauben, er sei ein bloßer Momentzustand von mir oder der Welt, so als würden die Welt und ich auch noch woanders existieren als in ihm und deswegen auch nicht von seiner Flüchtigkeit betroffen sein.

Würdest du sagen, dass du ständig stirbst?

Ich finde es zumindest manchmal schön, mir klarzumachen, dass das Leben mit jedem Augenblick auch vorbei ist, denn nur, weil ich es als Vergangenheit los bin, habe ich es im Augenblick als Freiheit, nämlich als Beginnmöglichkeit.

Ist die Vergangenheit für dich nur ein Sammelsurium von Bildern?

Es ist klar, dass die Welt in der Zeit nur vermittels von Bildern existiert. Zu dem, was länger als einen Augenblick dauert, gibt es keinen unmittelbaren Zugang. Das kann man nur mit einer Liste erreichen, indem man den Augenblick der Gegenwart zum Abbild dessen macht, was eben nicht in ihn hineinpasst.

Da ich ja nun mal Zeitungen lese, habe ich gerade erfahren, dass viele Olivenbäume, von denen tausend Jahre lang gepflückt wurde, plötzlich sterben. Ich frage mich, ob wir uns tatsächlich in einmaligen Krisenzeiten befinden oder ob diese fast arrogante Hybris, von sich anzunehmen, dass man in der Apokalypse lebt, einfach zum bleibenden Bestand gehört. Es hat immer etwas Heldenmütiges, wenn man sagen kann, ich lebe jetzt in der Endzeit, jetzt geht alles zu Ende. Aber das Sterben tausendjähriger Olivenbäume scheint zumindest ein heftiger Einbruch. Wie blickst du auf so etwas? Wie blickst du auf die Zerrüttungen in der Kultur, auf die Post-Postmoderne, in der wir uns befinden, die Kirchenkrise, hat das irgendeinen Einfluss auf dich, oder lässt dich das alles kalt?

Was die Kirchenkrise betrifft, kriege ich von den deutschen Sonderwegen wenig mit. Ich singe in unserer kleinen Gemeinde in der Schola mit und da geht es fromm und größtenteils sogar lateinisch zu, auch wenn es an hohen Festtagen Ausrutscher gibt, weil man sich an die Leute anpassen will.

„In meinem Büchlein steht, dass die Wahrheit in jedem Augenblick da ist und dass man auch jeden Augenblick anfangen kann, sich ihr nachdenkend zu nähern“.

Das könnte ja auch Zufall sein. In deiner Gemeinde könnte der „Ausrutscher“ auch Alltag sein. Das bringt mich wieder auf die Frage zurück, ob dein Rückzug aufs Land nicht doch ein in Deckung-Gehen vor der Gegenwartsepoche ist, die über einen hinwegrauscht.

Ich glaube, es ist nicht wichtig, zu wissen, von welcher Epoche manche Intellektuelle glauben, dass man in ihr mitgefangen sei. In dieser Hinsicht übe ich indirekt natürlich doch eine gewisse Kritik. Das schließt auch ganz gut den Bogen zum Anfang, wo wir darüber gesprochen haben, dass es ein Vorherwissen des Wahren gibt, und die Anschaulichkeit der Wirklichkeit es mir gestattet, aus eigenen Anschauungen wahre Erkenntnisse zu gewinnen. Habermas schreibt, der philosophische Diskurs der Moderne beginne mit Hegel, und Hegel hätte auch das Thema vorgegeben, das sei nämlich die Dialektik der Aufklärung. Nach dieser Theorie findet die Erkenntnis von Wahrheit ganz anders statt. Wahrheit wird gedacht als das Ergebnis eines historischen Prozesses. Die Vernunft ist historisch, das heißt, was an einem Zeitpunkt x wahr ist, ist nicht das gleiche, was am Zeitpunkt y wahr ist. Die Arbeit der Vernunft ist nicht direktes Nachdenken über letzte Fragen, sondern sozusagen die Selbsterlösung der Menschheit, indem sie die Bedingungen erkennt und analysiert, die dazu geführt haben, dass die Wahrheit noch nicht da ist. Da steht in meinem Büchlein nun das glatte Gegenteil. Da steht, dass die Wahrheit in jedem Augenblick da ist und dass man auch jeden Augenblick anfangen kann, sich ihr nachdenkend zu nähern.

Das ist sehr schön. Also gibt es ein wahres Leben im Falschen.

Ich glaube, es gibt im strengen Sinne gar kein falsches Leben.

Malte Oppermann
DAS WESENTLICHE BEZÜGLICH DES JETZT
64 Seiten, gebunden
ISBN 978 3 85418 2214
EUR 16,–

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